Buchtipp des Monats Dezember 2013
Lissabon und die saudade
Zum neuen Lissabon-Bildband von mare
Von Peter Koj
Lissabon hat viele Gesichter. Der in Berlin lebende Fotograf Jan Windszus (geb. 1976) hat sich aufgemacht, der Tejo-Metropole die eher stillen, dunklen Seiten abzugewinnen. Dabei herausgekommen sind Aufnahmen von hohem ästhetischem Reiz fernab aller touristischer Hochglanzproduktion. Das fahle Licht der Abend- oder Nachtstunden, Rauch, Nebel und Regen schaffen eine suggestive Stimmung, der sich der Betrachter nur schwer entziehen kann. Die Motive sind ebenso ungewöhnlich. Es fehlen die üblichen Postkartenansichten. Wenn überhaupt eines der klassischen Motive abgebildet ist, dann mit überraschenden Neueinstellungen, so z.B. der Arco da Rua Augusta, der Largo do Chiado, der Cais das Colunas. Ein cacilheiro löst sich förmlich im Abendlicht auf, scheint zu schweben (S. 118).
Doch Lissabon sind auch die Menschen. Und auch hier schafft Jan Windzsus mit einigen Einzelporträts Intimität: Tagelöhner, arme Fischer, ein alternder Matador, eine f adista , Liebespaare. Dagegen kontrastiert die Großzügigkeit der Aufnahmen, die Jan Windzsus aus einem Hubschrauber gemacht hat. Doch auch hier gelingt es ihm wieder, sich von dem üblichen Klischee der Luftaufnahmen freizumachen. Grandiose Wolkenbildungen und entsprechende Lichteffekte schaffen ein atemberaubendes Szenarium, so in den Großfotos von der Tejomündung (S. 20 und 21) und von Almada (S. 41). Bei Letzterem ist der Cristo Rei eher Beiwerk, auf anderen Fotos erscheint er sogar nur als minimaler Statist im Hintergrund, selbst auf dem Großfoto auf S. 84 und 85, dem er den Titel gibt.
Auch bei der Textgestaltung waren Fachleute am Werk. Das gilt sowohl für die informativen Bildbeschreibungen im Appendix, als mit Einschränkungen auch für das Vorwort von Karl Spurzem (S. 15 – 19). Hier wird – offensichtlich im Gleichklang mit der gedämpften Stimmung des Bildteils – für meine Begriffe ein wenig zu sehr der Mythos von der saudade strapaziert. Selbst der von Pessoa eher witzig gemeinte Vierzeiler, dass die Portugiesen saudades haben, weil sie über dieses Wort verfügen, ist hier kein Beleg. Schließlich geht es Portugals großem Dichter nicht um die saudade , dem existenziell-philosophischen Begriff im Sinne von Weltschmerz, sondern um die saudades , die ganz ordinäre Sehnsucht, etwas oder jemanden gern wiederzusehen (mehr dazu in meinem Artikel Saudade und kein Ende in der Portugal-Post 28 und 29 ). Auch die knappe Darstellung der portugiesischen Geschichte ist ganz in diese Richtung getrimmt, was zu einer Fehlinterpretation der Rolle von Kolumbus führt und zu einer Fehleinschätzung der portugiesischen Strategie bei der Entdeckung des Seewegs nach Indien (nicht von Indien, wie der Autor auf S. 17 ausführt). Das hatten Portugiesen schon lange vorher auf dem Landweg erreicht.
Zudem währte die spanische Fremdherrschaft 60 Jahre (1580–1640) und nicht „beinahe 90“. Grândola, vila morena war als Startsignal für den 25 de Abril wichtiger als Depois do Adeus und der Beitritt zur EU 1986 das bedeutendere Datum als der Anschluss an die EG 1976. Und was die Charakterisierung des Portugiesischen als vokalreiche Sprache angeht, so ist es eher umgekehrt, dass die Portugiesen, allen voran die Lissabonner, die Vokale platt machen (besonders das a) oder sogar ganz verschlucken (besonders das e). Erfreulich jedoch, einen deutschen Text geliefert zu bekommen, in dem portugiesische Begriffe orthografisch korrekt wiedergegeben werden.
Also: Sollten Sie noch kein passendes Weihnachtsgeschenk für einen Lissabonliebhaber haben, empfehlen wir diesen mit der vom mare -Verlag gewohnten Professionalität gestalteten Bildband. Sollten Sie sogar den Wunsch hegen, sich eines der großartigen Fotos an die Wand zu hängen, müssten Sie noch viel tiefer in die Tasche greifen: Die Fotos sind für 1.000 bzw. 2.500 Euro zu erwerben.
Jan Windszus, Lissabon , mare verlag Hamburg 2013 Preis: € 58,- Erhältlich im Buchhandel oder unter www.mare.de
Die Fotos sind erhältlich in der Galerie für Fotografie Persiehl & Heine, Bergstraße 11, 20095 Hamburg. Tel. 040-74 32 05 20